Kunst der Fuge

Johann Sebastian Bach hat seine Fugen (besonders die im „Wohltemperierten Klavier“) mit pädagogischer Absicht geschrieben: Er wollte den angehenden Musikern Muster, Vorbilder bieten. Bach entfaltete hier seine ganze Kunstfertigkeit. Und auch wenn die Fugen so klar und transparent erscheinen mögen, so richtig und letztlich auch irgendwie „einfach“, so stecken sie doch voll musikalischen „Tiefsinns“.

Man kann die Fugen als Hörer (oder auch als Musiker) an sich „vorbeirauschen“ lassen als eine Folge unverbindlicher Schallereignisse – und wird dem Kunstwerk dabei nicht gerecht. Fugenkomposition ist höchste Handwerkskunst, sie fordert Hörer und Musiker auf zu konzentriertem Nachvollzug: Will man die Fuge als sinnvolle Komposition verstehen, so muss man ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Die Fuge ist ein Gefüge musikalischer Gedanken.

Die Kunst der Fuge: simpelste Komplexität

Innerhalb der Fugenkomposition kann es die komplexesten Beziehungen geben. Doch bei aller Komplexität erscheinen die Beziehungen gradezu zwingend, ja auf geheime Weise logisch. Es steckt eine wie selbstverständlich sich entfaltende Macht in ihnen, eine überirdische Harmonie, der man sich nicht entziehen kann. Der Grund: Schon im Thema sind diese Beziehungen enthalten (siehe auch Definition „Fuge“). Alles entfaltet sich aus dem Thema – die Kunst (und somit Bachs großer Verdienst) liegt darin, die im Thema verborgenen Möglichkeiten zu erkennen und auszuloten.

Die Fuge ist Ausdruck, ist Bewegung musikalischen Denkens: Es gibt einen Ausgangspunkt (das ist das Thema) und eine Konsequenz (die Durchführung). Wir stoßen bei der Fugentechnik auf eine der höchstentwickelten Formen menschlichen Bewusstseins. Sie setzt die Fähigkeit zum musikalischen Denken voraus: In der Diskussion (der Durchführung) bleibt das Thema erhalten – oder, auf die Komposition übertragen: Man versteht die Komposition nicht nur als geschlossenes Ganzes, sondern als die Verwirklichung einer der mannigfaltigen Möglichkeiten, die das Thema erkennen lässt.

Was aber ist „musikalisches Denken“? „Denken“ ist immer auch „etwas anderes denken“. „Etwas anderes“ bedeutet in der Musik das Denken in Tonbeziehungen: das Verhältnis von Tonhöhen, von Tondauern, von Betonungen, Akzenten. Grundlageund Elemente dieses Denkens sind die Intervalle, Motive, Themen, Rhythmen. Auf der Basis eines entweder als natürlich oder als sinnvoll empfundenen Systems. Denken geschieht in Bildern, es findet seinen Ausdruck in Sätzen. Musikalisches Denken findet also seinen Ausdruck in musikalischen Sätzen. Der Satz, oder auch das Werk, ist dann der musikalische Gedanke.

Die Fuge als musikalischer Gedanke hat bei Johann Sebastian Bach zur Vollendung gefunden: Sein „Wohltemperiertes Klavier“ und „Die Kunst der Fuge“ sind die höchstentwickelten Werke der instrumentalen Fugenkomposition. Sie sind, da aus dem Volkslied entstanden, das letzte, abschließende Glied einer jahrhundertelangen Tradition: der Tradition der Polyphonie.

Die Polyphonie hatte hundert Jahre zuvor, im 16. Jahrhundert, einen ersten Höhepunkt erreicht. Doch damals war die Polyphonie vornehmlich vokal. Ihre höchste Blüte erzielte sie in den Gattungen der Messe und Motette. Messe und Motette waren die die zentralen Äußerungen kunstvoller Kirchenmusik.

Die Bachsche Polyphonie ist ihrem Wesen nach instrumentaler Natur und im Wesentlichen durch die Tradition der deutschen Klavier- und Orgelmusik geprägt. Der „Gegenspieler“ der deutschen Kompositionskunst war die italienische Instrumentalmusik des Barock. Ihre Großmeister hießen Arcangelo Corelli und Antonio Vivaldi, und ihre Kunst war durch das Violinspiel bestimmt.